Aus dem Bett gefallen. 3 Grey-Wesen in meinem Zimmer.

Teil 2: Ich und die Dunkelheit

Als Kind mochte ich die Nacht nicht besonders. Es war nicht so sehr die Dunkelheit an sich, die mich ängstigte, sondern etwas, das mit ihr in Verbindung stand. In manchen Nächten kam das Leben, das ich kannte, irgendwie zum Stillstand. Natürlich gab es diese Momente, in denen man wach wurde und in die Dunkelheit hinein lauschte, wenn alle anderen schliefen. Doch selbst dann war es nicht richtig “still”. Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer, und er lag im Bett gegenüber. Ich konnte seinen Atem hören. Er war da. Darüber hinaus hielt unsere Mutter die Zimmertüre ein Stück weit geöffnet, um uns Kinder jederzeit hören zu können. Wann immer jemand von uns nach ihr rief, stand sie ganz selbstverständlich auf, schaltete das Licht im Korridor an und kam zu uns rüber. Aber in manchen Nächten wachte ich auf und fühlte sofort, dass alles anders war.

Da war eine vollkommene Stille. Mein ganzes Gefühl, die gesamte Atmosphäre um mich herum veränderte sich, und dann kamen Dinge in Gang, die sich nicht mehr aufhalten ließen. Geräusche, langsame Aktivität, die ersten Schritte auf dem Korridor. Etwas trat aus der Dunkelheit der Wohnung heraus und kam zu mir. Die Tür, die etwa ein Viertel weit geöffnet war, wurde vollends aufgemacht. Augen zu. Etwas ging im Zimmer umher. Herzklopfen. Ich versuchte in diesen Augenblicken nicht mehr zu atmen, um ja keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, oder mich ganz einfach schlafend zu stellen. Sie standen an meinem Bett. Eine seltsame, dumpfe Stimme.

Ich wachte auf. Es war Morgen. Die Gestalten waren zusammen mit der Nacht verschwunden. Aufgelöst wie Nebel, weg wie die Dunkelheit, die durch das Tageslicht überdeckt wird. Ich kam kurz ins Stutzen. Ein Bild in meinem Kopf, ein kurzes Gefühl: Silhouetten vor meinem Bett, die Schritte, das Herzklopfen. War da nicht irgendwas gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Es war plötzlich so weit von mir entfernt. Die Sonne schien, mein Bruder war da, es gab Frühstück. Der übliche Trubel in unserer Wohnung setzte ein, und ich war einfach nur ein ganz normales Kind, das sich auf den neuen Tag freute.

In der nächsten Nacht lag ich ein weiteres Mal da und lauschte in die Dunkelheit. Ich wurde aufmerksamer und das Lauschen angestrengter. Es war, als suchte ich nach Anzeichen dafür, ob sich etwas in der Dunkelheit verändern würde. Es veränderte mich selbst. Ich war ja darauf bedacht, keinen Körperteil unter der Bettdecke herausragen zu lassen, weil ich befürchtete, dass sonst etwas aus der Dunkelheit heraus nach mir greifen könnte – der Widerhall einer fernen Erinnerung.  Die Decke zog ich bis zum Hals, und manchmal versteckte ich mich sogar ganz unter ihr. Aber das ging nicht lange gut. Es wurde warm. Die Luft wurde knapp. Das Atmen fiel mir immer schwerer. So lag ich in meinem Versteck und hielt nur eine kleine Öffnung frei, durch die ich ab und zu einen Blick nach draußen wagte. “Monster gibt es nicht”, beteuerten unsere Eltern, wenn wir nach einem Alptraum oder einer vermeintlichen Sichtung im Zimmer nach ihnen riefen. Es waren nur Träume, leere Hirngespinste, und wir sollten uns nicht fürchten. Sie wollten uns langsam entwöhnen und mahnten uns, nicht wegen jeder Kleinigkeit ihre Ruhe zu stören.

Die Zimmertür blieb trotzdem ein Stückweit geöffnet. Was uns eigentlich als Trost und Sicherheit dienen sollte, wurde am Ende zur Quelle meiner größten Furcht. Der Korridor war der Zugang zu jenem Ort, von dem die Dinge kamen. Seine undurchdringliche Dunkelheit lag bedrohlich in meinem Blickfeld.

Es gab so etwas wie einen “Super-GAU”. In meinem Alter kam es gelegentlich vor, dass ich nachts beim Umherwälzen ausversehen vom Bett rutschte und auf den Boden fiel. Für mich war das der blanke Horror. Fast augenblicklich rührte ich keinen einzigen Körperteil mehr – vergleichbar mit der Schockstarre bei einem Tier, das von einem hellen Licht angestrahlt wird, nur dass es bei mir die Dunkelheit war, der ich mich schutzlos ausgeliefert fühlte. Die offene Zimmertür lag vor mir. Dahinter lag die Schwärze. Ich starrte geradeaus. Ich war nicht einmal mehr dazu fähig, zurück ins Bett zu klettern, und war dankbar, wenn ich zusammen mit der Bettdecke zu Boden gefallen war, weil sie mir zumindest ein klein wenig Schutz bieten konnte. Wenn ich mich bewegte oder nach meiner Mutter rief, konnten “sie” vielleicht auf mich aufmerksam werden. Dann würde die Stille kommen und der erste Schritt im Korridor ertönen. Die Zeit stand still. Minuten, die sich wie Stunden anfühlten. Meistens geschah nichts. Irgendwann, wenn ein Geräusch den Bann brach – wenn draußen zum Beispiel ein Auto vorbeifuhr oder Schritte auf dem Gehweg zu hören waren – wusste ich, dass es sicher war. Ich schlüpfte schnell ins Bett zurück und warf die Bettdecke über mich.

Einmal kam es so, wie es kommen musste. Ich war aus dem Bett gefallen. Immerhin hatte ich meine Bettdecke bei mir. Nichtsahnend, dass die Dinge diesmal gehörig aus dem Ruder laufen sollten, lag ich regungslos auf dem Boden. Ich lauschte. Das folgende Erlebnis sollte sich für immer in mein Gedächtnis einbrennen. Ich würde es nicht mehr so einfach vergessen können.

Diesmal bekam ich den Wechsel ganz bewusst mit. Mit einem Mal schien sich die Atmosphäre in der Wohnung zu verändern. Etwas legte sich über die Umgebung wie eine große Käseglocke. Es war, als ob alles um mich herum stoppte. Es wurde still, ganz still. Das Licht nahm einen leicht bläulichen Farbton an, der durch den Spalt in der Türe hereinfiel. Es fing an. Ich hörte die Schritte auf dem Teppichboden des Korridors. Nicht jetzt! Warum jetzt? Es ließ sich nicht mehr aufhalten. Ich konnte nur hilflos auf die Zimmertüre starren und das Geräusch der Schritte mit den Ohren verfolgen. Irgendwie bedachtsam, schlurfend. Das charakteristische Knirschen, wenn man auf eine bestimmte Stelle des Teppichs tritt. Die Tür schwang sachte auf. Eine langsame Prozession. Von meiner Position auf dem Boden sah ich zuerst ihre Beine und dann ihre Oberkörper, weil meine Sicht durch einen Stuhl und einen Tisch verstellt war. Die Tischplatte verdeckte das Blickfeld nach oben fast vollständig. Meine Zeichnung versucht das Szenario nachzubilden:

Aus dem Bett gefallen. 3 Grey-Wesen in meinem Zimmer.

Zu dieser Zeit kamen sie zu zweit oder zu dritt. Für mich als Kind waren sie so etwas wie „kleine Männer“. Sie hatten die Statur von größeren Kindern. Genau genommen stellte sich für mich aber nie die Frage, was genau sie eigentlich waren. Sie waren einfach “sie”, und mein Gedanke in diesen Momenten war oft: “Sie sind wieder da.” Mein Herz klopfte, während sie so weit in den Raum traten, bis sie in mein Gesicht sehen konnten. Bis ich SIE sehen musste. Die ersten Beine waren eher dunkler, dünner. Dahinter folgte etwas, das ich als Kind nicht richtig einordnen konnte und deshalb zunächst nicht in meinem früheren Erlebnisbericht erwähnt habe. Es sah aus wie jemand, der in etwas Wallendes gekleidet war – etwas, das bis nach unten reicht und dort ausläuft. Es war ein größeres Wesen, das eine Art von Gewand trug. Die Farbe dieses Kleidungsstücks muss einen helleren Farbton gehabt haben, etwas in Richtung weiß oder hellgrau, da es sich vom Hintergrund abhob. Dahinter folgte ein weiteres, kleineres Wesen. Mein Herz raste. Ich wollte sie eigentlich nicht ansehen. Doch ich kannte sie. Ich wusste, wer sie waren.

Die zwei ersten Wesen bewegten sich in mein Blickfeld, wobei das Größere jetzt die Führung übernahm. Sie postierten sich vor mir und blickten mich an. Ich erinnere mich genau daran, dass das größere Wesen irritiert oder überrascht darüber war, weil es mich auf dem Boden liegend vorfand. Es sagte so etwas wie: “Warum liegst du da auf dem Boden?” Das klingt recht naheliegend und belanglos, aber es ist ein Ausspruch, an den ich mich bis heute gut erinnern kann. Er demonstriert für mich gleichzeitig  eine Form von Verständnis – oder eine Verständnislosigkeit – für unsere irdischen Handlungen und Taten.

Die beiden Wesen kamen auf mich zu und fuhren damit fort, mich anzusprechen. Ob sie damit versuchten, mütterlich oder beruhigend auf mich einzuwirken – es war mir ganz gleich, ich blockte sie ab. Ich wollte nichts davon hören. Sie machten mir Angst, weil ich wusste, dass sie etwas von mir wollten. Instinktiv versuchte ich eine abwehrende Haltung einzunehmen. Ich drückte mich gegen das Bett und zog die Bettdecke an mich, doch es war vergebens. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon bei mir.Das größere Wesen beugte sich zu mir herunter, seine Worte hallten seltsam in meinem Kopf. Sie griffen nach der Decke und fassten mich an. Dann brach die Erinnerung ab.

An einem Morgen, der nicht lange darauf folgte, saßen wir alle zusammen beim Frühstück. Die Geschehnisse der Nacht waren für kurze Zeit verblasst. Ich sagte meiner Mutter, dass ich aus dem Bett gefallen war und mich nicht mehr zurückgetraut hatte. Meine Eltern fragten mich, warum ich nicht einfach wieder ins Bett gegangen wäre. “Ich hatte Angst vor der Dunkelheit”, sagte ich. “Ich habe mich unter der Bettdecke versteckt. Ich wäre fast erstickt.”

In diesem Moment war es, als ob ein Schatten der Zukunft über uns allen lag. Es war erst der Anfang einer langen Reise.

 

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