Als Kind mochte ich die Nacht nicht besonders. Es war nicht so sehr die Dunkelheit an sich, die mich ängstigte, sondern etwas, das mit ihr in Verbindung stand. In manchen Nächten kam das Leben, das ich kannte, irgendwie zum Stillstand. Natürlich gab es diese Momente, in denen man wach wurde und in die Dunkelheit hinein lauschte, wenn alle anderen schliefen. Doch selbst dann war es nicht richtig “still”. Mein Bruder und ich teilten uns ein Zimmer, und er lag im Bett gegenüber. Ich konnte seinen Atem hören. Er war da. Darüber hinaus hielt unsere Mutter die Zimmertüre ein Stück weit geöffnet, um uns Kinder jederzeit hören zu können. Wann immer jemand von uns nach ihr rief, stand sie ganz selbstverständlich auf, schaltete das Licht im Korridor an und kam zu uns rüber. Aber in manchen Nächten wachte ich auf und fühlte sofort, dass alles anders war.
Da war eine vollkommene Stille. Mein ganzes Gefühl, die gesamte Atmosphäre um mich herum veränderte sich, und dann kamen Dinge in Gang, die sich nicht mehr aufhalten ließen. Geräusche, langsame Aktivität, die ersten Schritte auf dem Korridor. Etwas trat aus der Dunkelheit der Wohnung heraus und kam zu mir. Die Tür, die etwa ein Viertel weit geöffnet war, wurde vollends aufgemacht. Augen zu. Etwas ging im Zimmer umher. Herzklopfen. Ich versuchte in diesen Augenblicken nicht mehr zu atmen, um ja keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, oder mich ganz einfach schlafend zu stellen. Sie standen an meinem Bett. Eine seltsame, dumpfe Stimme.
Ich wachte auf. Es war Morgen. Die Gestalten waren zusammen mit der Nacht verschwunden. Aufgelöst wie Nebel, weg wie die Dunkelheit, die durch das Tageslicht überdeckt wird. Ich kam kurz ins Stutzen. Ein Bild in meinem Kopf, ein kurzes Gefühl: Silhouetten vor meinem Bett, die Schritte, das Herzklopfen. War da nicht irgendwas gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Es war plötzlich so weit von mir entfernt. Die Sonne schien, mein Bruder war da, es gab Frühstück. Der übliche Trubel in unserer Wohnung setzte ein, und ich war einfach nur ein ganz normales Kind, das sich auf den neuen Tag freute.
In der nächsten Nacht lag ich ein weiteres Mal da und lauschte in die Dunkelheit. Ich wurde aufmerksamer und das Lauschen angestrengter. Es war, als suchte ich nach Anzeichen dafür, ob sich etwas in der Dunkelheit verändern würde. Es veränderte mich selbst. Ich war ja darauf bedacht, keinen Körperteil unter der Bettdecke herausragen zu lassen, weil ich befürchtete, dass sonst etwas aus der Dunkelheit heraus nach mir greifen könnte – der Widerhall einer fernen Erinnerung. Die Decke zog ich bis zum Hals, und manchmal versteckte ich mich sogar ganz unter ihr. Aber das ging nicht lange gut. Es wurde warm. Die Luft wurde knapp. Das Atmen fiel mir immer schwerer. So lag ich in meinem Versteck und hielt nur eine kleine Öffnung frei. Ab und zu wagte ich durch sie einen Blick nach draußen. Monster gab es nicht, sagten unsere Eltern, wenn jemand von uns einen Alptraum hatte oder glaubte, jemanden im Zimmer gesehen zu haben. Es waren einfach nur Träume, und wir müssten keine Angst haben. Wir sollten nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit nach ihnen rufen. Die Zimmertür blieb trotzdem ein Stück geöffnet. Was uns eigentlich als Sicherheit dienen sollte, wurde am Ende zu etwas, vor dem ich mich am meisten fürchtete. Es war der Anblick der undurchdringlichen Dunkelheit im Korridor, jenem Ort, von dem die Dinge kamen.
Es gab so etwas wie einen “Super-GAU”. In meinem Alter kam es gelegentlich vor, dass ich nachts beim Umherwälzen vom Bett rutschte und auf den Boden fiel. Für mich war das der blanke Horror. Ich fühlte mich der Dunkelheit schutzlos ausgeliefert und rührte keinen einzigen Körperteil – eine Schockstarre wie bei einem Tier, das von einem hellen Licht angestrahlt wird. Die offene Zimmertür lag vor mir. Dahinter lag die Schwärze. Ich starrte geradeaus. Ich war nicht einmal dazu fähig, zurück ins Bett zu klettern, und war dankbar, wenn ich zusammen mit der Bettdecke auf den Boden gefallen war, weil sie mir zumindest ein klein wenig Schutz bieten konnte. Wenn ich mich bewegte oder nach meiner Mutter rief, konnten “sie” vielleicht auf mich aufmerksam werden. Dann würde die Stille kommen. Die Schritte im Korridor ertönen. Meistens geschah nichts. Irgendwann, wenn ein Geräusch den Bann brach – wenn draußen zum Beispiel ein Auto vorbeifuhr oder Schritte auf dem Gehweg zu hören waren – wusste ich, dass es wirklich sicher war. Ich schlüpfte schnell ins Bett zurück und warf die Bettdecke über mich.
Einmal kam es so, wie es kommen musste. Ich war aus dem Bett gefallen. Immerhin hatte ich meine Bettdecke bei mir. Nichtsahnend, dass die Dinge diesmal gehörig schief laufen sollten, lag ich regungslos auf dem Boden. Ich lauschte. Das folgende Erlebnis sollte sich für immer in mein Gedächtnis einbrennen. Ich würde es nicht mehr so einfach vergessen können.
Diesmal bekam ich den Wechsel ganz bewusst mit. Mit einem Mal schien sich die Atmosphäre in der Wohnung zu verändern. Etwas legte sich über die Umgebung wie eine große Käseglocke. Es war, als ob alles um mich herum stoppte. Es wurde still, ganz still. Das Licht nahm einen leicht bläulichen Farbton an, der durch den Spalt in der Türe hereinfiel. Es fing an. Ich hörte die Schritte auf dem Teppichboden des Korridors. Nicht jetzt! Warum jetzt? Es ließ sich nicht mehr aufhalten. Ich konnte nur hilflos auf die Zimmertüre schauen und das Geräusch der Schritte verfolgen. Das charakteristische Knirschen, wenn man auf eine bestimmte Stelle des Teppichs tritt. Irgendwie bedachtsam, schlurfend. Eine langsame Prozession. Die Tür schwang sachte auf. Von meiner Position auf dem Boden sah ich zuerst ihre Beine und dann ihre Oberkörper, weil meine Sicht durch einen Stuhl und einen Tisch verstellt war. Die Tischplatte verdeckte das Blickfeld nach oben fast vollständig. Meine Zeichnung versucht das Szenario nachzubilden:
Zu dieser Zeit kamen sie zu zweit oder zu dritt. Für mich als Kind waren sie so etwas wie „kleine Männer“. Sie hatten die Statur von größeren Kindern. Genau genommen stellte sich für mich aber nie die Frage, was genau sie eigentlich waren. Sie waren einfach “sie”, und mein Gedanke in diesen Momenten war oft: “Sie sind wieder da.” Mein Herz klopfte, während sie so weit in den Raum traten, bis sie in mein Gesicht sehen konnten. Bis ich SIE sehen musste. Die ersten Beine waren eher dunkler, dünner. Dahinter folgte etwas, das ich als Kind nicht richtig einordnen konnte und deshalb zunächst nicht in meinem ursprünglichen Erlebnisbericht erwähnt habe. Es sah aus wie jemand, der in etwas Wallendes gekleidet war – etwas, das bis nach unten reicht und dort ausläuft. Es war ein größeres Wesen, das eine Art von Gewand trug. Die Farbe dieses Kleidungsstücks muss einen helleren Farbton gehabt haben, etwas in Richtung weiß oder hellgrau, da es sich vom Hintergrund abhob. Dahinter folgte ein weiteres, kleineres Wesen. Mein Herz raste. Ich wollte sie eigentlich nicht ansehen. Doch ich kannte sie. Ich wusste, wer sie waren.
Die zwei ersten Wesen bewegten sich in mein Blickfeld, wobei das Größere jetzt die Führung übernahm. Sie postierten sich vor mir und blickten mich an. Ich erinnere mich genau daran, dass das größere Wesen irritiert oder überrascht darüber war, weil es mich auf dem Boden liegend vorfand. Es sagte so etwas wie: “Warum liegst du da auf dem Boden?” Das klingt recht naheliegend und belanglos, aber es ist ein Ausspruch, an den ich mich bis heute gut erinnern kann. Er demonstriert für mich gleichzeitig eine Form von Verständnis – oder eine Verständnislosigkeit – für unsere irdischen Handlungen und Taten.
Die beiden Wesen kamen auf mich zu. Das größere Wesen – vielleicht sogar jetzt beide – fuhren damit fort, mich anzusprechen. Ob sie damit versuchten, mütterlich oder beruhigend auf mich einzuwirken – es war mir ganz gleich, ich blockte sie ab. Ich wollte nichts davon hören. Sie machten mir Angst, weil ich wusste, dass sie etwas von mir wollten. Ich versuchte panisch eine abwehrende Haltung einzunehmen und meine Bettdecke an mich zu ziehen – vergebens. Zu diesem Zeitpunkt waren sie schon bei mir, griffen nach der Decke und fassten mich an. Dann brach die Erinnerung ab.
An einem Morgen, der nicht lange darauf folgte, saßen wir alle zusammen beim Frühstück. Die Geschehnisse waren für kurze Zeit verblasst. Ich sagte meiner Mutter, dass ich in der letzten Nacht aus dem Bett gefallen war und mich nicht mehr zurückgetraut hatte. Meine Eltern fragten mich, warum ich nicht einfach zurück ins Bett gegangen wäre. Ich sagte ihnen, dass ich Angst vor der Dunkelheit gehabt hätte. Dass ich mich unter der Bettdecke versteckt hätte. Und fast dabei erstickt wäre.
Es war damals erst der Anfang einer langen Reise.